Rezensionen Bay: ISO 26000 in der Praxis. Der Ratgeber zum Leitfaden für soziale Verantwortung und Nachhaltigkeit

Karl-Christian Bay (Hrsg.): „ISO 26000 in der Praxis. Der Ratgeber zum Leitfaden für soziale Verantwortung und Nachhaltigkeit. Darstellung, Diskussion und Analyse – Vergleiche zu bestehenden Regelungen – Umsetzungshinweise und Beispiele“. Verlag: Oldenbourg Industrieverlag, München, 1. Auflage (2010). 214 Seiten. Preis: 49,90 Euro. ISBN: 978-3835632226.

Rezension von Dirk Schmitt, Bereichsleiter Konzernkommunikation, Deutsche Annington, Bochum

Seit wenigen Tagen liegt die DIN ISO 26000 / „Leitfaden zur gesellschaftlichen Verantwortung“ vor. Der insgesamt 140 Seiten starke CSR-Leitfaden versteht sich als unverbindliche Orientierungshilfe für alle Organisationen, definiert jedoch faktisch einen internationalen Standard, an dem künftig vor allem die CSR-Bemühungen der Unternehmen gemessen werden dürften. Mit dem Praxisratgeber „ISO 26000 in der Praxis“ legen die Autoren eine klar strukturierte und leicht lesbare Erläuterung des Leitfadens vor, setzen ihn in den rechtlichen, betriebswirtschaftlichen und kommunikativen Kontext und geben praxisnahe Anleitungen für die Planung und Umsetzung konkreter CSR-Projekte. Man mag zur Normierbarkeit gesellschaftlicher Werte geteilter Ansicht sein. Mit Existenz und Auswirkungen der ISO 26000 muß man sich dennoch auseinandersetzen. CSR-Verantwortliche benötigen hierzu den ISO-Leitfaden und einen praktischen Ratgeber. Für CSR-Interessierte genügt der Ratgeber.

Die ISO 26000 wendet sich nicht nur an Wirtschaftsunternehmen, sondern an alle Organisationen, die gesellschaftliche Verantwortung tragen, unabhängig vom Organisationstyp. Sie handelt daher an sich von Social Responsibility, nicht nur von Corporate Social Responsibility. Hauptadressaten sind jedoch die Unternehmen. Die Verantwortungserwartung des Leitfadens ist weitgehend, insofern Unternehmen auf verantwortliches Verhalten nicht nur in ihrer eigenen Wertschöpfungskette, sondern dazu in ihrer gesamten Lieferkette hinwirken sollen. Hierin liegt die eigentliche Wirkkraft des CSR-Leitfadens: Die Einflußsphären der Nationalstaaten enden an den Staatsgrenzen. Die entwickelten Länder werden wirtschaftsmächtiger, aber unter Verhältnissen der wirtschaftlichen Globalisierung politisch handlungsunfähiger. In den ärmsten Teilen der Welt vergehen staatsähnliche Strukturen, Verhältnisse diffuser Staatsmacht weichen quasi-zentralistischen, lokal begrenzten Einflußsphären von Territorialfürsten. Mit der wirtschaftlichen Globalisierung durchwirken Unternehmen die Welt zunehmend mit Wertschöpfungs- und Lieferketten über alle Staatsgrenzen hinaus.

Der CSR-Leitfaden zielt erkennbar darauf ab, das auf Seiten der Staaten entstehende Vakuum durch Inanspruchnahme der Unternehmen zu füllen. So könnte – lediglich beispielshalber – eine westliche Bekleidungskette, statt in einem Entwicklungsland die billigsten Produktionsbedingungen zu suchen („race to the bottom“) von ihren örtlichen Lieferanten menschenwürdige Arbeitsbedingungen fordern und diese möglicherweise subventionieren, bis alle Wettbewerber entsprechende Standards erreicht haben und menschenunwürdige Arbeitsbedingungen lokal keinen Wettbewerbsvorteil mehr darstellen („race to the top“). Wenn die Bekleidungskette dies gegenüber ihren Kunden richtig kommuniziert („tue Gutes und rede darüber“), stärkt sie nicht nur ihr Ansehen, sondern dazu ihre Marktstellung und hat deshalb sogar gute Aussichten, ihren Aufwand wieder zu erwirtschaften. Der Staat, in dem das Bekleidungsunternehmen rechtsansässig ist, könnte dies nicht.

Vorworte von Herausgeber und Verlag führen den Leser kurz, prägnant und praxisnah an das Thema „gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen“ heran. Der eigentliche Ratgeber ist sodann in fünf Hauptkapitel unterteilt: Ziele und Bedeutung der ISO 26000 (I), historische Herleitung bis zur Normierung (II), Erläuterung der Prinzipien und Kernthemen gesellschaftlicher Verantwortung (III), Vergleich mit bestehenden Regelwerken und Gesetzen (IV) und Umsetzung in konkrete Projekte von der Projektdefinition über Planung, Koordination und Analyse bis zur Implementierung und Verankerung im laufenden operativen Betrieb (IV). Anschließend kommen Stimmen aus einem breiten gesellschaftspolitischen Spektrum zu Wort: Bundesminister Dirk Niebel, Frank Bsirske (ver.di), Unternehmensvertreter aus dem Groß- und Möbelhandel (METRO, IKEA) und der Finanzwelt, ein Industrieverband (ZVEI), Beratung und Wissenschaft, die SPD-Bundestagsfraktion, Claudia Roth und Attac Deutschland. Der Ratgeber schließt mit einem 53 Fragen umfassenden „Quickcheck“ zur Selbsteinschätzung der eigenen Organisation auf Übereinstimmung mit den Erwartungen der ISO 26000.

Nicht jede Organisation kann für alles und jeden verantwortlich sein und nicht jedes Engagement von Unternehmen ist Corporate Social Responsibility (CSR). Die Autoren grenzen im ersten Kapitel die übergeordnete Unternehmensverantwortung (Corporate Responsibility) anhand des Dreisäulenmodels methodisch gebräuchlich nach Corporate Governance, Corporate Social Responsibility und Corporate Citizenship ab. CSR aus Sicht der ISO 26000 ist die ganzheitliche und nachhaltige Integration ökonomischer, ökologischer und sozialer Aspekte erst in den gesamten Wertschöpfungsprozeß und anschließend in die Lieferkette des Unternehmens. Ökonomische Nachhaltigkeit meint, daß das aktuelle Wirtschaften eine für die Zukunft tragfähige Grundlage für ausreichenden Erwerb und Wohlstand bieten soll. Ökologische Nachhaltigkeit meint Schutz von Natur und Umwelt für kommende Generationen durch Ressourcenschonung und Vermeidung von Umweltschäden. Soziale Nachhaltigkeit meint Sicherung der Grundbedürfnisse und Armutsbekämpfung durch gerechte Ressourcenteilung. In der Unternehmenspraxis verschwimmen die möglichen Ableitungen dann ineinander: Ressourcenschonung ist zugleich ein Innovationstreiber, eine diskriminierungsfreie Personalpolitik zugleich ein Werttreiber und menschenwürdige Arbeitsbedingungen fördern den sozialen Frieden, verhindern Wanderungsbewegungen und so fort.

Die ISO-Mitglieder stammen aus 163 Ländern entsprechend 84% der von den Vereinten Nationen anerkannten Staaten. Was die Unternehmen ihrer Vorstellung nach zur Social Responsibility beitragen sollen, ist neuerdings – durch die Kommunikationsbranche noch weitestgehend unbemerkt – durch den CSR-Leitfaden international normiert. Der Ratgeber stellt im zweiten Kapitel die achtjährige Entstehungsgeschichte des CSR-Leitfadens bis zur Veröffentlichung am 1.11.2010 dar und schafft dadurch Verständnis sowohl für die historischen Grundlagen als auch für die teilweise erheblichen Bedenken der verschiedenen im Prozeß beteiligten Interessengruppen. Leitfaden und Ratgeber erschienen nahezu zeitgleich, wofür Verlag und Autoren des Ratgebers zu loben sind. Der Leitfaden ist freiwillig und nicht zertifizierungsfähig. Er gibt jedoch nicht nur eine bloße Orientierungshilfe, sondern setzt als internationale ISO-Norm dazu einen faktischen Standard, an dem die Unternehmen künftig international gemessen werden.

Die ISO 26000 identifiziert sieben Prinzipien gesellschaftlicher Unternehmensverantwortung: Rechenschaftspflicht, Transparenz, ethisches Verhalten, Achtung der Stakeholderinteressen, der Rechtsstaatlichkeit, internationaler Verhaltensstandards und der Menschenrechte. Als Handlungsfelder definiert die Norm sieben Kernthemen: Organisationsführung, Arbeitsbedingungen, anständige Geschäftspraktiken, Verbraucherangelegenheiten, regionale Einbindung und Entwicklung sowie Menschenrechte und Umwelt. Diese Prinzipien und Kernthemen sind durch die Unternehmen ganzheitlich zu verstehen und zu behandeln und werden im dritten Kapitel des Ratgebers einzeln abgehandelt und sehr gut erläutert.

Die Autoren geben sodann einen leicht verständlichen Überblick über die Stellung der ISO 26000 im rechtlichen Kontext und stellen ausführlich dar, weshalb viele Erwartungen der ISO 26000 hierzulande durch vorhandene Gesetze und Regelwerke einschließlich von Kennzeichnungen wie „Der Blaue Engel“, „Textiles Vertrauen“ oder des EMAS-Logos bereits abgedeckt sind. Deutsche Unternehmen, die sich gesetzestreu verhalten, erfüllen nach Ansicht der Autoren die Normerwartungen bereits in vielerlei Hinsicht. Aus Sicht eines Kommunikationsverantwortlichen sind die Ausführungen des vierten Kapitels zum rechtlichen Kontext aufschlußreich, aber letztlich zu umfangreich. Gleichzeitig spart der Ratgeber das gesamte Zertifizierungswesen aus; hier würde sich ein Unternehmensjurist womöglich zumindest eine grobe Einordnung wünschen, wie die wichtigsten Zertifizierungen und die CSR-ISO ineinandergreifen.

So geht es beispielsweise auch bei dem zollrechtlichen „zugelassenen Wirtschaftsbeteiligten / Authorised Economic Operator“ nicht nur um dessen eigene Zuverlässigkeit, sondern dazu um Zuverlässigkeit innerhalb seiner gesamten Lieferkette – eine an sich offensichtliche Parallele zur ISO 26000. Aus Sicht eines Wirtschaftsprüfers wiederum wäre wahrscheinlich ein Zusatzkapitel zu Inhalt und Ausgestaltung des Nachhaltigkeitsberichtes im Lichte der neuen ISO-Norm sinnvoll. Andererseits richtet sich der Ratgeber nicht ausschließlich an die Unternehmenskommunikation, die Rechtsabteilung oder an Wirtschaftsprüfer, sondern als Erläuterung der neuen ISO-Norm an alle, die im Unternehmensalltag mit CSR als Querschnittsmaterie befaßt sind. Es handelt sich nicht um eine umfassende wissenschaftliche Kommentierung, sondern um einen Praxisratgeber. Diese Zielsetzung erfüllt das Buch voll und ganz.

Das fünfte und letzte Hauptkapitel widmen die Autoren des Ratgebers der Umsetzung des CSR-Leitfadens im Unternehmensalltag: Der Frage der konkreten Überführung der gesellschaftlichen Verantwortung des Unternehmens in ein tatsächlich gelebtes Werteverständnis. Der Ratgeber bietet hierzu illustrative Schaubilder sowie lesens- und nachahmenswerte Fallstudien und Beispiele für erfolgreiche CSR-Projekte vom internationalen Großkonzern bis zum mittelständischen Unternehmen. Natürlich wird jedes Unternehmen sich seine eigenen CSR-Projekte suchen müssen. Ein Ratgeber kann hierzu kaum Vorschläge machen. Entscheidend ist jedoch, daß anhand des gesamten Ratgebers deutlich wird, welchen abstrakten Anforderungen ein Projekt nach der Erwartungshaltung der ISO 26000 zu genügen hätte. Die wichtigste ist der Vorrang der eigenen Wertschöpfungskette, anschließend der Vorrang der eigenen Lieferkette.

Maßnahmen innerhalb oder in unmittelbarer Nähe der eigenen Wertschöpfungskette haben Unternehmen grundsätzlich selbst zu identifizieren und umzusetzen und innerhalb der eigenen Lieferkette, soweit ihr Einfluß reicht. Das ist sachlich sinnvoll und auch lebensnah, weil sich Unternehmen in Nähe ihrer Wertschöpfungskette am wohlsten fühlen und mit Blick auf das stets einhergehende Reputationsrisiko auch am sichersten fühlen dürfen: Der Privatmann spendet und hofft, daß es hilft. Sein Risiko besteht in der sozialen Zweckverfehlung. Für Unternehmen beinhalten CSR-Projekte zusätzlich eine Reputationschance und ein Reputationsrisiko. Wirkt das Engagement des Unternehmens glaubhaft, wirkt das Unternehmen glaubwürdig und hat einen Imagegewinn, der sich möglicherweise langfristig wirtschaftlich auszahlt. Wirkt das Engagement unglaubhaft, erscheint das Unternehmen unglaubwürdig und erleidet einen Imageverlust, der ihm sehr wahrscheinlich kurz- oder mittelfristig wirtschaftlich schadet.

Die wirtschaftlichen Vorteile eines Reputationsgewinnes sind kaum meßbar und immer gering. Die wirtschaftlichen Nachteile eines Reputationsverlustes sind oft meßbar und potentiell massiv. Ob Öffentlichkeit und Verbraucher ein CSR-Projekt positiv oder negativ aufnehmen, richtet sich in der modernen Mediengesellschaft nicht immer nach den objektiven Erfordernissen des guten Zwecks, sondern in nicht unerheblichem Maß auch nach den Regeln des Medienbetriebes. Unternehmen sollen sich aber nicht durch gelegentliche Spendentätigkeit (Corporate Giving) aus diesem Risiko herauskaufen und letztlich von ihrer gesellschaftlichen Verantwortung freikaufen können, sondern in ihrem Einflußbereich auf Dauer das ihnen vernünftigerweise Mögliche tun. Mitwirkende eigennützige Unternehmensmotive sind nicht per se illegitim. Unternehmen sollen verantwortlich handeln, weil es sich für sie auszahlt und nicht nur, weil sie es für moralisch richtig halten.

Nur dann ist CSR selbst nachhaltig. Zwar sind die wirtschaftlichen Vorteile einzelner CSR-Maßnahmen meist nicht meßbar, sondern es besteht nur eine begründete Hoffnung auf einen langfristigen Reputationsgewinn. Insgesamt betrachtet ist ganzheitliche Unternehmensverantwortung für die Unternehmen jedoch letztlich wirtschaftlich vorteilhaft und diesen Umstand nutzt die neue CSR-ISO als Hebel durch Verknüpfung von Werten mit Wertschöpfung: Je wertschöpfungsnäher das ökologische oder soziale Projekt, desto größer die Reputationschance für das Unternehmen, die Kompetenz des Unternehmens zur Projektverwirklichung und die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Realisierung. Die Mißbrauchsgefahr – Handeln zu bloßen PR-Zwecken – ist begrenzt, weil Öffentlichkeit und Verbraucher als Kontrollinstanz wirken und das sog. „Greenwashing“ schnell enttarnt und empfindlich abgestraft wird.

Die andere Seite der Medaille betrifft die gemeinnützigen und Nichtregierungsorganisationen: Je wertschöpfungsnäher das ökologische oder soziale Projekt, desto geringer der Bedarf für eine Projektverwirklichung gerade durch sie. CSR soll nach dem erkennbaren Willen des Leitfadens keine neue Finanzquelle für gemeinnützige Organisationen sein, damit diese eine bei den Unternehmen liegende Verantwortung für diese wahrnehmen. CSR führt vielmehr in letzter Konsequenz dazu, daß gemeinnützige Organisationen neue Verantwortungsbereiche übernehmen müssen, für die sich am Ende kein Staat oder Unternehmen verantwortlich zeigt. Hierauf sollte sich dann das unternehmerische Spendenwesen konzentrieren, damit der durch Wertschöpfungs- und Lieferketten nicht erreichte Teil der Welt nicht verlorengeht.

Im Fazit hebt der Ratgeber nochmals vier Nutzendimensionen der CSR zusammenfassend hervor: Aufbau und Verbesserung der Unternehmensreputation, Kundengewinnung und Kundenbindung, Personalrekrutierung und Mitarbeitermotivation sowie Personalarbeit und Personalentwicklung. Der Ratgeber schließt im Anhang mit einem 53 Fragen umfassenden Fragenkatalog zur Selbsteinschätzung der Unternehmen, der die sieben wichtigsten Dimensionen der ISO 26000 abdeckt: Kunden, Umwelt, Mitarbeiter, regionale Einbindung und Entwicklung, anständiges Unternehmensverhalten, Menschenrechte und Organisationsführung. Eine tiefgehende Analyse will und kann ein derartiger Fragebogen nicht ersetzen, schon deshalb, weil jede Analyse streng unternehmensbezogen zu sein hätte. In jedem Falle identifiziert er schnell, innerhalb welcher Dimensionen und in bezug auf welche Kernthemen Handlungsbedarf besteht. Für die Überleitung in konkrete Projekte gibt dann das fünfte Kapitel zu Projektaufbau- und Durchführung die erforderlichen Handreichungen.

Der Rezensent: Dirk Schmitt arbeitete von 1997 bis 2008 in der Kommunikationsberatung, zuletzt als Geschäftsführer bei Financial Dynamics in Frankfurt am Main. Seit 2008 ist er bei der Deutschen Annington, dem mit über 220.000 Wohnungen größten privaten Wohnungsunternehmen Deutschlands, zuständig für die Konzernkommunikation einschließlich Government Relations und Corporate Social Responsibility. Schmitt hat einen Magister in Politikwissenschaften (Universität Mannheim) und einen Executive MBA der Universitäten St. Gallen und Toronto.

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