Kommentare Pfarrerstochter statt Bundeskanzlerin: Die Neujahrsansprache von Angela Merkel

Über Politik kann man streiten. Über eine gute Rede nicht. Deswegen kann man über das, was unsere Bundeskanzlerin am Silvesterabend gesagt hat, unterschiedlicher Meinung sein. Aber nicht darüber, wie sie es gesagt hat: Pathetisch, gestelzt, nicht authentisch. Eine Rednerin, die offensichtlich jedes Wort, jede Silbe und jede Bewegung zuvor stundenlang einstudiert und dadurch sich selber verloren hat. Pastorale Betonung, Pausen ohne zu atmen, geschriebene Sprache, abgelesen wie auswendig gelernt. Die Augen starr in die Kamera gerichtet. Kein Lächeln, kein befreiter und befreiender Atmer; nichts, was uns als Zuhörer anspricht.

Ja, eine Neujahrsansprache soll und muss feierlich sein, vielleicht auch eindringlich. Aber nicht pastoral, gestelzt, steif, statisch. Wie schön wäre es gewesen, wenn die Rednerin sich getraut hätte, ein bisschen von dem Feuer, von der Lebendigkeit und vielleicht auch von dem Humor zu zeigen, mit der sie im Bundestag die Parteifreunde begeistert und den politischen Gegner düpiert.

Und die Optik? Klar, mit 56 muss die Brille her, sonst verschwimmt der Text vom Teleprompter. Ein ungewohnter und damit zunächst verwirrender Anblick, zumal eine randlose Nickelbrille keinen Akzent setzt, sondern versucht, möglichst wenig aufzufallen. Und hat denn niemand gesehen, dass das gesetzte Licht aus Merkels Mundfalten lange Raffzähne macht? Und dass der schöne Anhänger nicht mittig sitzt im Kanzlerinnen-Busen?

Da hatte der Fotograf, der das offizielle Pressefoto geschossen hat, das bessere Auge und beides korrigiert. Und warum hat man die Kanzlerin offenbar festgeklebt am Sessel; steif und verkrampft vermeidet sie jede Körperbewegung. Nur die Hände darf sie bewegen und sie tut es wie Ernie von der Sesamstraße: Offene Handflächen, klapp auf, klapp zu.

Eine Rede soll nicht informieren. Eine Rede soll interessieren, motivieren, faszinieren. Eine Rede muss uns ansprechen. Aber das kann sie nur, wenn wir den Eindruck haben, dass die Rednerin auch sie selbst ist, dass sie auch wirklich zu uns spricht. Und Spaß daran hat. Sprechen Sie mit uns, Frau Merkel. Auch zu Neujahr.


Stefan Korol
, Vorsitzender des Bundesverband der Medientrainer in Deutschland (BMTD) und Journalistik-Professor an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg in Sankt Augustin

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