Mediengeschichte: Vom Bänkelsang zum Skandalentertainment

Vor 86 Jahren (1936) erschien im Gustav Kiepenheuer Verlag Berlin eine Sammlung „Bänkelballaden auch Moritaten genannt“. Aus dem Nachwort des Herausgebers Karl Heinz Kramer ist die Darstellung der geschichtlichen Entwicklung dieses medialen Instruments auch heute noch von aktueller Bedeutung in der Medienwelt für Presse, Radio, TV, Pr-/ Werbeagenturen und Publikum, wenn es um Lärm, Skandalisierung und Furchterzeugung durch Berichte über Katastrophen, Kriege Morde und merkwürdige Begebenheiten geht.

Kramer: „Nur wenige kennen den Bänkelsang noch aus eigener Anschauung. Die Jüngeren verbinden mit diesem Begriff in der Regel die Vorstellung billiger Parodien. (So ernsthaft die Absicht der Bänkelsänger ist, so wenig bedarf ihre banale Feierlichkeit einer Parodie.) […]

Triftiger erscheint Görners Erklärung aus dem Rotwelsch „more“, Lärm, Schrecken, Furcht.

Die Urform der Moritat ist die „Newe Zeittung“ des 15. Und 16. Jahrhunderts. Die Kolporteure derselben, „Avisensänger“ und „Zeitungssinger“ genannt, priesen auf den Jahrmärkten von einem Bänkel herab ihre meist mit einem drastischen Titelholzschnitt geschmückten Balladendrucke an. Diesen oft sehr umfangreichen Balladen (es finden sich viele, die über fünfzig Strophen umfassen), lagen aktuelle Geschehnisse von weittragender Bedeutung, Naturkatastrophen, Kriege, Morde, aber ferner überhaupt merkwürdige Begebenheiten, die Anlaß zu moralischen Unterweisungen in religiöser Art bieten konnten, zugrunde. Die Dichter waren wohl oft Geistliche. Man verwendete Choralmelodien.

Mit dem Aufkommen der eigentlichen modernen Presse emanzipierte sich die Form, die bisher nur als Reklame für die zu verkaufenden Zeitungsdrucke galt. Der Bänkelsänger bediente sich nunmehr zur Interpretation seiner Balladen zusammenrollbarer Wachstuch- oder Leinewandtafeln und eines seinen Gesang begleitenden Musikinstrumentes. Obwohl noch heute im Regelfall der Verkauf der Moritatenblätter den einzigen Ertrag des Bänkelsängers bildet, so ist die Darbietung nun doch als selbständige Gesamtheit zu betrachten. Die Teilnahme verpflichtet moralisch zum Kauf. Bemerkenswert ist übrigens der für eine so primitive Äußerung ungewöhnliche Aufwand an Mitteln, der eine Intensität des Erlebnisses bedingt, die die Einzigartigkeit dieser Volkskunst am treffendsten zu kennzeichnen vermag.

Ein Leierkastenvorspiel, während dessen sich das Publikum einfindet, eröffnet die Darbietung. Sodann singt eine jüngere Frauensperson einige Strophen des Liedes, ihre dünne Stimme mit der Drehorgel unterstützend und, in der Linken einen langen Rohrstab, auf die entsprechenden Bilder der hinter ihr stehenden Leinwand hinweisend. Sie bricht den Vortrag ab, um eine knappe, aber blühende Prosadarstellung der im Liede meist nur andeutungsweise erwähnten Vorgänge zu geben. Ein Hinweis auf die von dem Mann oder den Kindern währenddessen im Publikum feilgebotenen Schriften (achtseitige Drucke, die eine ausführliche Prosa, das Lied und oft unter dem langatmigen Titel einen eindringlichen Holzschnitt enthalten) und ein kurzes Drehorgelnachspiel beschließen die Vorstellung. In früheren Zeiten fanden übrigens auch Harfe und Geige als Begleitinstrumente Verwendung. Heutigentags finden sich zuweilen Mundharmonika oder Schifferklavier.“

Der Beginn der Romantik brachte einen starken Einschnitt „mit ihrer wahllosen Überschätzung volkstümlicher Äußerungen.“

„Die gewiss zersetzende Absicht eines „Feynen kleynen Almanachs“ hinderte Arnim und Brentano keineswegs, auf diese Sammlung zurückzukommen und ihr als einer willkommenen Quelle ehrliche Hochschätzung angedeihen zu lassen. Sie wollten sich erneut dieser Kunst annehmen und planten sogar die Errichtung einer Schule für Bänkelsänger, die den Rhapsoden eine gründliche Unterweisung ermöglicht hätte und für die man zweifellos bald die Gutwilligkeit namhafter Maler, Dichter und Komponisten zwecks Herstellung der Bildtafeln, Texte und Melodien interessiert hätte.“

Kramer hält dann in einer Situationsanalyse über die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts ganz allgemein fest: „Es wäre lohnend, den Bänkelsang in Beziehung zu setzen zu den Einrichtungen, deren Funktion er wohl vordem zu erfüllen hatte: Presse und Film. Sind doch bei allen Institutionen dieser Art die Bedürfnisse der Masse entscheidend. Auch der Bänkelsang gewährleistet dem Wunsch nach Macht, Geltung und Besitz, aber vor allem dunklen Instinkten, die nach Verbrechen und Zerstörung verlangen, eine illusionäre und daher risikolose Befriedigung. Dabei wird, angesichts der demonstrierten Katastrophe und Verworfenheit dem Letzten das erhebende Gefühl eigener Geborgenheit oder schadenfroher Entrüstung ermöglicht. Die früher oft übliche Bezeichnung „Ein schön new Lied“ für die brutalsten Moritaten verrät deutlich genug diese Absicht. Wie der Film, sichert sich auch der Bänkelsang durch eine scheinbare Respektierung sittlicher Konventionen.“ Und:

„Dabei soll keineswegs außer acht gelassen werden, daß er auch wahrhaft ethischen Regungen des Volkes gerecht wird. So findet sich ein eigenartiges Beieinander von unsäglicher Grausamkeit und triefendem Sentiment. Ein ähnliches Mißverhältnis, wie es zwischen den sozialen Voraussetzungen und dem vergeblichen Versuch einer gehobenen Ausdrucksweise besteht.“

Kramer geht auch auf die „Verwandtschaft“ und den Unterschied von Presse und Bänkelsang ein: „Noch sinnfälliger, da verwandtschaftlicher Art, sind die Beziehungen des Bänkelsanges zur Presse. Sind doch beide Einrichtungen auf denselben historischen Ursprung zurückzuführen. Doch während sich die Presse einem steten Formenwandel unterwarf, verharrte der Bänkelsang konservativ in seiner seit Jahrhunderten bestehenden Gestalt. Abgesehen von der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfolgten „Säkularisation“ hat er keine wesentliche Entwicklung aufzuweisen. Auch nach jener Loslösung von der geistlichen Vorstellungswelt wurde der „moralische“ Charakter gewißermaßen als Rechtfertigung gewahrt. Es unterliegt keinem Zweifel, daß der weitaus größte Teil jener vergangenen Boulevardpresse in Wahrheit eben denselben Instinkten und Sensationsbedürfnissen der Masse entgegenkam. An die Stelle einer unglaubwürdigen Moral trat nunmehr der zeitgemäßere Vorwand sachlicher Zweckmäßigkeit. Sehen wir von den in der Tat unerläßlichen amtlichen, politischen und wirtschaftlichen Informationen ab, so nahmen neben dem Feuilleton noch immer ausführliche Berichte über Katastrophen und Morde einen unverhältnismäßig großen Teil der Zeitung in Anspruch. Ist angesichts der objektiven Sinnlosigkeit dieser Information die zunehmende Präzision und Beschleunigung ihrer Übermittlung als Fortschritt zu werten? – Entspricht nicht die billige Zynik der „Gerichtssaal“rubriken dieser erwähnten Zeitungen ganz und gar jener oben gekennzeichneten Mentalität? Wir haben wenig Anlaß, über die Bänkelsänger zu lächeln.“

Im jungen 21. Jahrhundert hätte Kramer seine literarische Analyse ohne große Abstriche im Inhalt mühelos fortschreiben können. Die Sucht der Zuhörer, Zuschauer und Leser nach politischem und skandalisierendem „Entertainment“ besonders im Boulevardbereich wird durch überbordende Informationen frei nach Shakespeares „Viel Lärm um nichts“ von Moderatoren, Wanderpredigern und „Augenzeugen“ in sich wie Kaninchen vermehrenden neuen Sendeformaten und Rubriken unablässig gestillt.

Zusammengestellt und kommentiert von Wolfgang Reineke, Heidelberg