Macht der Bilder Bilder von uns und denen
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- von Jost Listemann, Berlin
Die Bilder sind meist verwackelt und unscharf: sie zeigen eine Art Fischtrawler, überfüllt mit Menschen im sonnenblauen Meer Süd-Griechenlands. Niemand weiß genau, wie viele Menschen der überfüllte Kahn mit sich zog – es müssen Hunderte gewesen sein, glaubt man den wenigen Überlebenden und den Bildern der Küstenwache, die tatenlos zusah. Die Namen der Opfer werden unbekannt bleiben, eine Passagierliste haben die Schlepper, die solche Boote befüllen sicherlich nicht geführt. Tausende Angehörige werden nicht wissen, was passiert ist. Nur Gerüchte werden bleiben und für die Verwandten eine ewig nagende Ungewissheit. Die Passagierliste des privaten Tauchbootes „Titan“ kennen wir dagegen ganz genau.
Die Namen der fünf Männer, alle auf ihre eigene Art verrückt nach Abenteuer, Aufmerksamkeit und dem ganz exklusiven Kick, sind bekannt. Sie fahren zu einem Schiffswrack in die Tiefsee, das eigentlich ein Seegrab für über Tausend Menschen ist. In einem Akt der Selbstüberschätzung und Sensationslust gehen die fünf ein Risiko ein, gegen das ein Formel-1-Rennen wie eine Kutschfahrt wirkt. Und dann geht die Sache auch noch schief…
Genau hier beginnt die Erzählung ihre Kraft zu entfalten: Fünf Männer, auf sich allein gestellt, verloren in den unendlichen Weiten der Tiefsee, harren auf Rettung. Der Plot wird zur weltweiten Nachrichtenstory. Bilder der Ehefrauen gehen viral, der Name von Vater und Sohn an Bord wird bekannt, eigene Hintergrundartikel beleuchten die Persönlichkeiten der fünf weißen Männer und schreiben ihnen Rollen auf den Leib: Marinetaucher und Milliardär – so lesen wir es zumindest in den deutschen Medien. Wir sehen Archiv-Bilder vom U-Boot, bedrückte Offizielle auf Pressekonferenzen ohne Neuigkeiten, Experten-Interviews voller Vermutungen, faktenfrei, aber emotionsgeladen. Plötzlich wird da ein Schicksal greifbar, erlebbar, verschafft dem Publikum ein wohliges Gruseln: zu erleben, dass auch Milliardäre sterblich sind.
Jeder ist jemand
„Jeder ist jemand“ sagte einmal der Theaterregisseur George Tabori und meinte damit, dass jeder Mensch eine Würde hat. Deshalb kann man das Leid von Opfern auch nicht aufrechnen, bewerten, skalieren.
Aber die unterschiedlichen Bilder von zwei verschiedenen Bootsunglücken deuten auf eine Differenz in unserer Wahrnehmung: das Schicksal der Fünf im U-Boot ist unserem Selbstbild näher, deshalb wird es uns überall medial dargereicht. Wären wir nicht alle auch gerne ein bisschen Marinetaucher und Milliardär? Reich geworden mit irgendeinem sinnfreien Digitalbusiness, dass beim „Exit“ ein sorgenfreies Leben abwarf. Oder der einsame Wolf oder Wölfin unter Wasser, im Einsatz für das Wahre, Gute und Schöne? Im Verschwinden des Kleinst-U-Bootes mit seinen fünf Passagieren ist gleich der nächste Titanic-Mythos angelegt: Das Selbstbild eines fortschrittlichen Westens, der starken Individuen alle Möglichkeiten gibt, Neues zu entdecken. Es ist unser Mythos.
Deprimierende Bilder
Flucht hat einen anderen Mythos, produziert andere Bilder: Sie steht für Scham und Schande, für Niederlage und Verlust. Flüchtlinge werden „einquartiert“, ihre Anwesenheit stört, man muss mit ihnen teilen. Ihre Bilder sind nie heroisch, meist deprimierend. In der Bundesrepublik der 50er Jahre waren Flüchtlinge „aus dem Osten“ oft Bürger zweiter Klasse, in der DDR war zur selben Zeit jeder vierte Einwohner fremd im neuen Staatsgebiet: „Neusiedler“ nannte man sie, quasi aus dem nichts gekommen. Dabei waren es doch Ostpreußen, Schlesier und Pommern. Flüchtlinge, das sind immer „Die“, nicht „Wir“. Sie gehören nicht zu „Uns“.
Und so ist die Bildsprache über den Untergang im Mittelmeer und den Untergang im Nordatlantik nur konsequent: Die Titanic steht für die kollektive Fiktion eines Westens mit dem Willen, die Grenzen des Menschen durch Technik neu zu definieren. Und jetzt das U-Boot, ein futuristischer Körper mit dem fünf Männer die Tiefe herausfordern… und ebenso final scheitern?
Das Bild eines Fischtrawlers voller Flüchtlinge gehören nicht zum Selbstbild des freien Westens - seine Passagiere sieht man lieber aus der Distanz: Als verwackelte Masse von Gesichtslosen, die zum Niemand werden. Es sind Bilder vom „Denen“, nicht von „Uns“.
Über den Autor: Jost Listemann ist Inhaber der Videoproduktionsfirma Time:Code:Media GmbH in Berlin. Er berät globale Unternehmen und öffentliche Institutionen in ihrer visuellen Kommunikation. Gestartet als Politikwissenschaftler ist er seit 2000 in der PR-Branche als Filmproduzent tätig. An der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft leitet er die Ausbildung für visuelles Storytelling und Bewegtbild.
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