Branche re:publica 2024: Bericht aus der Warteschlange
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- von Jost Listemann, Berlin
Tom Buhrow nestelt am Kopfhörerkabel, wischt ungeduldig über sein Handy. Der Noch-Indendant des WDR kämpft mit der digitalen Konferenztechnik in der Berliner „Station“. Aus der ersten Reihe will er den Vortrag von Fridtjov Traulsen verfolgen, dem CEO von Böhringer Ingelheim Deutschland. Traulsen spricht zum Thema KI und neue Chancen für die medizinische Forschung. Sein Publikum auf der Berliner Konferenz re:publica ist bunt gemischt – altersmäßig und auch äußerlich.
Für den Pharmaforscher wird sich dieser Vormittag in Berlin schon jetzt gelohnt haben. Sitzt doch nicht nur der einflussreichste Intendant der ARD unter seinen Zuhörern, sondern auch die Zielgruppe, die mittlerweile ihr eigenes Körpergewicht in Gold wert zu sein scheint – die Gen Z. Gepierct, tätowiert und mit Kopfhörern bewaffnet ist gefühlt jeder und jede Vierte jünger als 25. Neugierig und fröhlich wird genetzwerkt, ob auf dem Smartphone oder face to face. Von Desinteresse an Unternehmen, Medien und Politik keine Spur. Was 2007 als nerdiges „Blogger-Treffen“ begann, ist nach Corona wieder zu einem Event mit zirka 20.000 Besucherinnen und Besuchern angeschwollen – und eine vielfältige PR-Bühne für Unternehmen, Medien und Politiker.
KI als Dauerthema
KI, Desinformation und Gesundheit sind die Themenschwerpunkte der rp24. Künstliche Intelligenz beleuchten die Speaker aus allen möglichen Perspektiven: KI in der Forschung, KI in der öffentlichen Verwaltung, KI in den Medien…ZDF, ARD, arte, Deutschlandfunk, dpa und die Medienregulierer – alle scheinen zu wissen, was geht. Aber hinter vorgehaltener Hand zuckt so mancher Medienmensch ratlos mit den Schultern – es ist klar, dass KI die Branche brutal verändern wird. Nur WIE weiß keiner so genau. Die öffentlich-rechtlichen Sender sind in der Defensive - auch deshalb präsentieren sie sich raumfüllend und aufwendig.
KI in den Medien, das ZDF war vertreten. (Foto: J. Listemann)
Netzpolitiker rufen plötzlich nach dem Staat
Die selbstbewusste Stimmung vergangener Jahre ist auf der rp24 einer spürbaren Nervosität gewichen, der digitale Rechtspopulismus zieht sich wie ein roter Faden durch Vorträge und Diskussionen. Das Freiheitsversprechen des Netzes scheint zwischen Plattformen und Hatespeech zerrieben worden zu sein. Jetzt, wo der Hass aus dem Netz auf die Straße gekrochen ist, rufen auch die Netzpolitiker nach dem Staat. Markus Beckedahl, intellektueller Kopf der re:publica, rattert in seiner Keynote alle möglichen Regulierungsforderungen herunter – bis dazu, dass jetzt auch das Online-Marketing genauer unter die regulatorische Lupe genommen werden müsse. Wo früher die Angst vor dem Überwachungsstaat die Diskussionen dominierte, ist heute von DGSVO und europäischer KI-Gesetzgebung die Rede. Zeitenwende auch hier.
Weniger Industrieunternehmen zeigen Präsenz
Auffällig ist, dass mehr öffentliche Institutionen und weniger Industrieunternehmen die re:publica als Plattform nutzen. Noch vor Corona empfing ein großer Mercedes-Stern die Besucher im alten Eisenbahndepot am Berliner Gleisdreieck. Heute sind erkennbar Plätze frei und auch Google hat nur eine Nische gewählt. Gleichzeitig ist das Programm eher Deutschland-fixiert – geopolitische Thematiken kommen nur am Rande vor. Der Krieg im Informationsraum um die Ukraine oder die Social Media-Schlacht um Israel und Gaza werden eher beiläufig thematisiert. Die digitalen Brutalitäten der Gegenwart diskutiert man nur innerhalb der üblichen Pipelines wie Hatespeech oder Fakenews.
Virtuelle Erinnerungsräume
Aber zum Charme der re:publica gehört auch das Unbekannte, das Irritierende: Da lädt die Bundesbank zur Diskussion über KI in der Bankenaufsicht, fast zeitgleich präsentiert eine Bestatterin virtuelle Erinnerungsräume in denen man mit den KI-generierten Stimmen von Verstorbenen sprechen kann. In Workshops wird mit KI Pullis (!) gepromptet oder die Programmierung der eigenen Bilderkennungssoftware angeboten. Ein bisschen Wahnsinn muss sein.
Florence Gaub: Zukunft ist beeinflussbar
Dieses Jahr machen die Frauen den Unterschied. Carolin Emcke, Journalistin und Trägerin des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, skizziert das selbstbewusste Zukunftsbild eines gleichberechtigten, queeren Lebens in Deutschland. Ihre Zuhörer danken es ihr mit Standing Ovations.
Florence Gaub bei ihrem Auftritt. (Foto: J. Listemann)
Die Forschungsdirektorin der Nato-Militärakademie in Rom, Florence Gaub, argumentiert auf großer Bühne überzeugend, dass Zukunft immer beeinflussbar ist – und deshalb nie nur negativ sein kann. Der Bedarf an positiven Nachrichten scheint groß – vor ihrem Signiertisch bildet sich anschließend eine lange Schlange.
Routinierter Auftritt von Annalena Baerbock
Der Abend des ersten Tages gehört dann dem Europa-Wahlkampf und Außenministerin Annalena Baerbock. Im Gespräch mit dem re:publica-Gründer Jonny Häusler liefert sie eine routinierte Tour d'Horizon – von Gaza, über die Ukraine bis zu Assange und der Migrationspolitik. Was man auch immer von ihr und ihrer Ampel-Regierung halten mag – aus einer ehrgeizig Getriebenen ist eine Politikerin geworden, die sichtbar eine steile Lernkurve hinter sich hat. Dabei war ihr Auftritt mit Spannung erwartet worden, denn im überwiegend linken Publikum der re:publica war durchaus mit Gaza-Demonstranten zu rechnen.
Aber der kommunikativste Ort auf der re:publica ist und bleibt die Warteschlange. Beim ewigen Warten auf überteuertes Streetfood oder lauwarme Mate trifft man sich zufällig und kann spontan den letzten Vortrag oder Workshop reflektieren. Hier ist die Berliner Konferenz dann ganz bei sich und die analoge Visitenkarte immer noch hilfreich.
Über den Autor: Jost Listemann ist Inhaber der Videoproduktionsfirma Time:Code:Media GmbH in Berlin. Er berät globale Unternehmen und öffentliche Institutionen in ihrer visuellen Kommunikation. Gestartet als Politikwissenschaftler ist er seit 2000 in der PR-Branche als Filmproduzent tätig. An der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft leitet er die Ausbildung für visuelles Storytelling und Bewegtbild.
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