Macht der Bilder Butscha: ein CNN-Effekt?

„Unerträglich“ nennt die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock die Bilder aus der ukrainischen Kleinstadt Butscha, einige Autominuten nördlich von Kiew. Auf einem Handyvideo, das auf Twitter kursiert, erlebt man das Unerträgliche aus der Perspektive eines Beifahrers: Durch eine schmutzige Frontscheibe ist zu erkennen, wie ein vorausfahrender Pick-up langsam kurvend über eine nasse Straße fährt. Der Wagen muss immer wieder Leichen ausweichen, die im Abstand von geschätzt 50 bis 80 Metern im Weg liegen. Der Wagen hält nicht an, keiner der aufsitzenden Soldaten steigt von der Ladefläche herab und geht auf die Straße. Vom Beifahrersitz sieht man die Opfer aus unmittelbarer Nähe in der langsamen Vorbeifahrt, die Hände geknebelt, das Gesicht auf dem Boden. Es regnet, es ist grau und es ist kalt an diesem Sonntag nördlich von Kiew. Es ist unerträglich.

Unerträgliche Bilder aus Butscha! Die Verbreitung und Empörung darüber folgen dem grausam kalkulierten Reaktionsmuster, das der Terrorismus nutzt, um die Medien zu instrumentalisieren. (Abbildung: Screenshots tagesschau.de / Twitter)

So brutal es klingen mag, diese Bilder sind das Produkt einer bewussten Inszenierung, sie sind eine Botschaft der russischen Aggressoren. Der Adressat, um nicht zu sagen die „Zielgruppe“, ist die Ukraine, die Zivilbevölkerung, die Regierung, die Armee: Seht her, was wir tun, wenn wir zurückweichen müssen! Sehr her, was wir tun, wenn ihr weiter Widerstand leistet! Sehr her, wir kämpfen mit allen Mitteln. Die Militärsoziologin Florence Gaub nannte dieses brutale Vorgehen zuletzt die „Taktik der Bestrafung“: die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung diene nicht taktischen Zwecken auf dem Gefechtsfeld, sie soll die ukrainische Regierung erpressen: Das ist der Preis, den euer Land zahlt, wenn ihr nicht aufgebt.

Das Videomaterial aus Butscha wird die Forensiker internationaler Organisationen noch beschäftigen, sind es doch erste Beweise von einem Tatort. Gleichzeitig lassen die Aufnahmen erkennen, dass es sich hier um eine bewusst herbei geführte Situation handelt: Wer seine Verbrechen vertuschen will, verwischt Spuren. Hier sind die Opfer den nachrückenden ukrainischen Truppen sozusagen „in den Weg gelegt“ worden – schockierend für die Soldaten und alle die, die die Opfer sehen, sehen sollen. Es ist ein Verbrechen, Menschen zu töten. Ein weiteres Verbrechen ist es, die Opfer für eine mediale Öffentlichkeit in Szene zu setzen. Die Bilder von den  Straßen von #butscha sollten viral gehen…

Auch die westliche Öffentlichkeit ist Adressat und mit ihr die Politik: Die Bilder sollen verunsichern und verängstigen, die Politik unter Druck setzen. Auch hier ist die Botschaft so zynisch wie klar: Wir schlagen euch mit einer Waffe, gegen die ihr keine Mittel habt – die Macht viraler Bilder. Wir nutzen eure medialen Plattformen, um unsere Botschaft zu senden und die könnt ihr nicht aufhalten… Es ist der Mechanismus des Terrorismus, die Medien zu instrumentalisieren: Dieses Bild, diese Opfer, dieses Ereignis ist so wichtig, so spektakulär in seiner Grausamkeit, dass ihr es senden müsst – unsere Bilder und unsere Botschaft weltweit in Echtzeit und vielen Wiederholungen.

Die Medienwissenschaft beschreibt die Phase eines Konfliktes, in dem virale Bilder über Social Media und TV die internationale Politik beeinflussen, als den „CNN-Effekt“. In einer solchen Situation entwickelt sich schnell ein mediales Kesseltreiben über alle Kanäle, das die politisch Verantwortlichen unter moralischen Handlungsdruck setzt. Die Morde von #Butscha und ihre brutale Inszenierung dienen dazu, die Menschen im Westen zu verängstigen, die Nervosität weiter zu erhöhen und damit politische Kurzschlusshandlungen zu provozieren.

Aber die Macht der Bilder kann täuschen – und Täuschung ist ein selbstverständliches Mittel der Kriegführung eines Wladimir Putins. Der Rückzug russischer Truppen aus der Nähe von Kiew ist ein militärischer Erfolg, den viele im Westen und im Kreml kaum für möglich gehalten haben. Wären da nicht die schrecklichen Bilder aus Butscha würde die ukrainische Regierung international einen großen Sieg verbuchen können - immerhin ist die russische Armee vor Kiew zurückgeschlagen worden und die Idee eines Blitzkrieges mit anschließendem Regierungswechsel offensichtlich gescheitert. Und so täuscht die Brutalität der viralen Bilder über die Schwäche der russischen Offensive hinweg – und den Teilerfolg der ukrainischen Streitkräfte.

Die Bilder aus #butscha sind politische Botschaft und militärische Täuschung zugleich. Die Opfer sind echt. Es ist unerträglich.

Über den Autor: Jost Listemann (Foto) ist Inhaber des Unternehmens Time:Code:Media GmbH in Berlin. Er berät große Unternehmen wie die Bayer AG und die Autobahn GmbH des Bundes und produziert für sie Bewegtbild-Kommunikation. Gestartet ist er als Politikwissenschaftler, seit dem Jahr 2000 ist er in der PR-Branche mit Schwerpunkt visuelle Kommunikation und Film tätig. An der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft unterrichtet er Storytelling und Bewegtbild.

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