Das Pullover-Outfit von Bundeskanzler Scholz bei seiner Reise in die USA löste sehr unterschiedliche Reaktionen aus. Sie reichten von Sympathiebekundungen über humorvolle Betrachtungen bis zu ironischen Äußerungen. (Quelle: Screenshots Twitter)

Dies ist kein Text über einen Pulli – sondern darüber, warum wir über einen Pulli reden. Seit gut einer Woche befeuert der Auftritt von Bundeskanzler Scholz auf seinem Flug in die USA eine widersprüchliche Diskussion. Erst wittert der politische Gegner einen Schaden für das Amt und eine Blamage für Deutschland, dann regen sich Twitter-Größen über die Oberflächlichkeit der Diskussion auf, bis schließlich am Freitagabend sogar die Heute-Show den Pulli als Aufmacher nutzt. Aber hat der Kanzler wirklich neue Kleider, oder ist er etwa nackt wie sein Vorgänger in Andersen Märchen? Was ist passiert?

Olaf Scholz ist seit noch nicht einmal 100 Tagen deutscher Bundeskanzler und damit mächtigster Repräsentant des stärksten Mitglieds der EU, der vierstärksten Volkswirtschaft der Welt und eines der einflussreichsten Nato-Mitglieder. Ein klares Wort des Bundeskanzlers zu den aktuellen Krisen der Welt umtwittert den Globus in kürzester Zeit, so einflussreich ist der Mann und das Amt.

Hier beginnt das Problem: Deutschland ist nervös, die Nerven liegen blank. Die Pandemie geht ins dritte Jahr und die Menschen erwarten von der neuen Regierung Perspektiven. Die Wirtschaft schwächelt, immer noch sind viele Existenzen bedroht und in Schulen und Universitäten verlieren gerade zwei Generationen die Lust auf Bildung. Und zu allem Unglück schwebt über all dem eine Urangst der Deutschen: Krieg mit Russland. Das Land ist im Stress, da will man nicht sehen, dass der Chef sich locker macht…

In einer repräsentativen Demokratie haben die Wählerinnen und Wähler ein gewisses Dienstleistungsverhältnis zu ihren Repräsentantinnen und Repräsentanten: ihr bekommt Macht, damit ihr unsere Angelegenheiten verantwortlich regelt. Aber da ist noch etwas anderes: Gesellschaften erkennen sich selbst in ihren Repräsentantinnen und Repräsentanten, in ihrer Erscheinung, in ihrem Auftreten. Im digitalen Medienstrom ist die Physis mehr denn je politisch. Das gilt nicht nur für Diktatoren wie Wladimir Putin, der sich mit nacktem Oberkörper, beim Judo oder als Jet-Pilot fotografieren ließ. Auch Joe Biden joggte bei seinen Wahlkampfauftritten auf die Bühne, um seine Fitness im hohen Alter unter Beweis zu stellen. Olaf Scholz speckte auf dem Weg ins Kanzleramt kräftig ab, in der gesamten Ampelregierung sucht man die Physis eines Peter Altmaier vergebens. Und jetzt das: Mit schläfrig verquollenen Augen stellt sich Olaf Scholz den Journalisten in der Regierungsmaschine, der runde Kragen des Allerweltspullis lässt einen gealterten Hals erkennen. Der Bundeskanzler wirkt wie der Nachbar, der nach dem Mittagsschläfchen mal eben durchs Gartentor reingekommen ist. Bestellte Führung sieht anders aus…

Die Deutschen scheinen sich nicht ganz einig zu sein, ob sie das authentisch oder würdelos finden sollen. Das Umfrageinstitute YouGov will ermittelt haben, dass 60 Prozent der Deutschen die Kleidung des Kanzlers „passend“ zum Anlass fanden. Schließlich handelt es sich um ein Journalisten-Gespräch im Flieger und nicht um einen Besuch im Oval Office. Ob die digital ermittelten Zahlen repräsentativ sind, oder ob den meisten Deutschen der Kanzler im Pulli herzlich egal ist:

Die Diskussion um Scholz` Auftritt zeigt, dass die Erwartungshaltung an Repräsentantinnen und Repräsentanten in gesellschaftlich verantwortlichen Positionen immer vielfältiger und immer persönlicher wird. Das ist in der Geschichte nicht neu – neu ist, dass sich in der pausenlosen medialen Beobachtung von Führungspersönlichkeiten die Skandalisierung mit der Monetarisierung von Reichweite mischt. Der Kanzler im Schlabberpulli ist eine emotionale Story, zu der jeder und jede ein Meinung haben kann, denn bei Reputationsthemen passt das Urteil immer in einen Tweet. Emotionalisierung schlägt Inhalt, dafür sind Plattformen gebaut, die auch viele Journalisten für sich und ihre Medienhäuser nutzen. Bei den komplexen inhaltlichen Themen, die auf der Scholzschen Agenda in Washington standen, ist das schon wesentlich schwieriger.

Die neue Führung des Bundespressamtes wird ihre Lektion gelernt haben. Solche Bilder von Olaf Scholz werden wir während seiner Kanzlerschaft mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr zu sehen bekommen. Das ist verzichtbar, denn eigentlich hatten wir ja Führung bestellt…

Listemann Jost Gf Time Code MediaÜber den Autor: Jost Listemann (Foto) ist Inhaber des Unternehmens Time:Code:Media GmbH in Berlin. Er berät große Unternehmen wie die Bayer AG und die Autobahn GmbH des Bundes und produziert für sie Bewegtbild-Kommunikation. Gestartet ist er als Politikwissenschaftler, seit dem Jahr 2000 ist er in der PR-Branche mit Schwerpunkt visuelle Kommunikation und Film tätig. An der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft unterrichtet er Storytelling und Bewegtbild.


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