Autoren-Beiträge „Bahnsinn Riedbahn": Wenn radikale Transparenz zur besten Krisenprävention wird

Weinende Mitarbeiter, verzweifelte Reisende, massive Verspätungen: Die Dokumentationsserie „Bahnsinn Riedbahn" der Deutschen Bahn bricht mit nahezu allen klassischen Regeln der Unternehmenskommunikation. Lars Niggemann, Experte für Krisenkommunikation, analysiert das Projekt und erläutert, warum es dennoch – oder gerade deswegen – überzeugt.

Lars Niggemann (Foto: Prevency)

Zusammen mit der Düsseldorfer Agentur Belly Studios hat die Deutsche Bahn eine Bewegtbildkampagne gestartet, die für Kommunikationsstandards mehr als ungewöhnlich ist. Statt glatter PR-Fassaden sehen wir Menschen am Rande des Nervenzusammenbruchs, technische Probleme und ein System, das unter enormem Druck steht. Was auf den ersten Blick wie ein kommunikativer Super-GAU wirkt, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als Meisterstück präventiver Krisenkommunikation.

Die Macht der Verwundbarkeit

Unternehmen sollten sich auf Krisen vorbereiten, bevor sie eintreten. Die Deutsche Bahn geht mit „Bahnsinn Riedbahn“ (zu sehen bei Youtube und Joyn) einen ungewöhnlichen, aber bemerkenswert effektiven Weg: Sie inszeniert die Krise selbst – und nimmt ihr damit die zerstörerische Kraft.

Was uns die Dokumentation zeigt, ist nichts weniger als kontrollierte Verwundbarkeit. Während die meisten Unternehmen um jeden Preis vermeiden, Schwächen zu zeigen, macht die Bahn genau das zum zentralen Element ihrer Kommunikation. Sie sagt damit: „Ja, wir haben Probleme. Ja, wir sind überfordert. Und nein, die Lösungen sind nicht einfach.“

Transparenz als Vertrauenskapital

Die entscheidende Frage in der Krisenkommunikation lautet stets: Wird uns vertraut? Vertrauen ist die Währung, die in Krisenzeiten über Erfolg oder Misserfolg entscheidet. Die übliche Strategie vieler Kommunikationsabteilungen – Probleme kleinreden, Erfolge betonen, schwierige Themen umgehen – funktioniert heute nicht mehr. Im Zeitalter sozialer Medien und allgegenwärtiger Information wird jede Diskrepanz zwischen kommuniziertem Anspruch und erlebter Realität zum Brandbeschleuniger einer Krise.

Die Deutsche Bahn investiert mit ihrer radikalen Transparenz in ein Vertrauens-Reservoir, das im Krisenfall unbezahlbar ist. Sie macht sich angreifbar – und gewinnt dadurch paradoxerweise an Glaubwürdigkeit. Wenn Unternehmen ihre Verletzlichkeit zeigen, schaffen sie eine emotionale Verbindung zu ihren Stakeholdern, die in schwierigen Zeiten trägt.

Komplexität erklären statt vereinfachen

Ein weiterer wegweisender Aspekt: Die Bahn vereinfacht nicht, sondern erklärt Komplexität. In einer Zeit, in der wir gewohnt sind, dass komplexe Sachverhalte auf Twitter-Formate reduziert werden, hat die Bahn den Mut, die tatsächliche Vielschichtigkeit ihrer Herausforderungen zu zeigen.

Wenn Bahnmitarbeiter in der Dokumentation vor laufender Kamera erklären, warum ein Stellwerk ausfällt, warum Ersatzteile fehlen oder wie kompliziert die Abstimmung zwischen verschiedenen Abteilungen ist, dann geschieht etwas Entscheidendes: Die Zuschauer verstehen plötzlich, was vorher abstrakt und unbegreiflich war. Aus anonymem Versagen wird ein nachvollziehbares Problem.

Krisenvorbereitung durch narrative Kontrolle

Jede Krise ist auch ein Kampf um die Deutungshoheit. Wer bestimmt die Erzählung, wer kontrolliert das Narrativ? Die Deutsche Bahn hat durch „Bahnsinn Riedbahn“ die Kontrolle über ihre eigene Geschichte zurückgewonnen – ein entscheidender Vorteil in Krisenzeiten.

Indem die Bahn selbst die problematischen Aspekte ihres Betriebs dokumentiert, nimmt sie Kritikern den Wind aus den Segeln. Sie definiert den Rahmen, in dem über ihre Probleme gesprochen wird. Die Botschaft lautet: „Wir kennen unsere Schwächen besser als jeder andere – und wir arbeiten daran.“

Vom Reagieren zum Agieren

Klassisches Krisenmanagement ist reaktiv: Ein Problem tritt auf, das Unternehmen reagiert. Mit ihrer Dokumentation wechselt die Deutsche Bahn in den proaktiven Modus. Sie wartet nicht, bis andere ihre Probleme aufdecken, sondern tut es selbst.

Diese Umkehrung der üblichen Dynamik ist smart. Sie ermöglicht es, Diskussionen zu führen, wenn der Handlungsdruck noch nicht maximal ist, wenn noch Zeit zum Nachdenken bleibt. Und sie signalisiert: Wir nehmen das Problem ernst, noch bevor es zur akuten Krise wird.

Lehren für Kommunikationsverantwortliche

Was können Pressesprecher und Kommunikationsverantwortliche großer Konzerne von „Bahnsinn Riedbahn" lernen?

  • Präventiv denken: Warten Sie nicht, bis die Krise Sie trifft. Identifizieren Sie Ihre Schwachstellen und thematisieren Sie sie selbst.
  • Ehrlichkeit wagen: Die Zeit der Hochglanz-PR ist vorbei. Authentizität und Ehrlichkeit schaffen mehr Vertrauen als jede perfekt inszenierte Erfolgsgeschichte.
  • Komplexität zulassen: Vereinfachen Sie nicht auf Kosten der Wahrheit. Erklären Sie lieber, warum manche Probleme komplex sind und Zeit brauchen.
  • Menschen zeigen: Hinter jedem Unternehmensproblem stehen Menschen. Zeigen Sie sie – mit ihren Bemühungen, ihrer Frustration und ihrem Engagement.
  • Proben Sie den Ernstfall. Gehen Sie mögliche Krisenfälle praktisch durch und trainieren Sie Ihr Team.

Fazit

Die Zukunft gehört den Unternehmen, die den Mut zur Verwundbarkeit haben. Die Deutsche Bahn zeigt mit „Bahnsinn Riedbahn“, wie das in der Praxis aussehen kann. Ungewöhnliche, aber erfolgreiche Krisenkommunikation in Zeiten, in denen Transparenz kein Luxus mehr ist, sondern Überlebensstrategie.

Über den Autor: Lars Niggemann ist Geschäftsführer der Prevency GmbH, Wuppertal, einem Spezialisten für digitale Krisensimulationen und strategische Krisenprävention. Prevency unterstützt Unternehmen und Institutionen bei der Vorbereitung auf digitale Kommunikationskrisen. Außerdem ist Niggemann Teil des neuen Joint Ventures für Krisenkommunikation „Brand Spines”.

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