Branche Agenturchefs erwarten Grenzüberschreitungen und Fake-News-Welle im Bundestagswahlkampf

Deutscher Bundestag Simone M NeumannLügen und Ängste prägten die Brexit-Kampagne. Gesellschaftliche Spaltung, Diffamierungen und verbale Grenzüberschreitungen dominierten den US-Wahlkampf. Spätestens seit ihren Landtagswahl-Erfolgen bedient in Deutschland die AfD mit Provokationen flüchtlingskritische und xenophobe Ressentiments – und hat damit enormen Einfluss auf die politische Agenda und Medienberichterstattung. Politiker der Partei schaffen es mit Posts wie „Es sind Merkels Tote!“ (Markus Pretzell) auf Facebook und Twitter immer wieder in die klassischen Medien, sind damit aber keineswegs allein. Auch Publizisten und Politiker anderer Parteien greifen gerne verbal in die unterste Schublade - siehe "Spiegel"-Beitrag vom 22. Dezember 2016Der Wahlkampf 2017 um den Einzug in den Deutschen Bundestag (Foto, © Dt. Bundestag, Simone M. Neumann) dürfte kein gewöhnlicher werden.

Die politische Auseinandersetzung droht, von Lügen, Ausgrenzung und Hass gegen Andersdenkende, Eliten und Flüchtlinge überlagert zu werden. Das „PR-Journal“ hat vor diesem Hintergrund die Agenturgeschäftsführer Heiko Kretschmer (Johanssen + Kretschmer), Lutz Meyer (Fullberry) und Hans Langguth (Zum goldenen Hirschen) befragt, welche kommunikativen Entwicklungen sie mit Blick auf die drei Landtagswahlen 2017 und auf den Bundestagswahlkampf erwarten. Alle drei haben bedeutende Wahlkämpfe als Leadagenturen gemanagt.

Kretschmer Heiko JuK 2017Heiko Kretschmer (Foto l.), der mit der Agenturföderation Super J+K den Lead beim Bundestagswahlkampf 2013 der SPD innehatte, hält den Einsatz von Hass-Postings, verbalen Angriffen unter der Gürtellinie, Fake News und Social Bots für ein absolut realistisches Szenario: „Wir werden erleben, dass Rechtspopulisten sich all dieser Methoden zu bedienen versuchen. Zuspitzungen, die gelogen oder beleidigend, wenn nicht gar verleumderisch sind, werden zum Stilmittel. Behauptungen andeuten, aussprechen und anschließend wieder relativieren.“ Dass die AfD im Wahlkampf die Grenzen der Wahrheit austesten will, hat sie in einem Strategiepapier deutlich gemacht. Mit „sorgfältig geplanten Provokationen" wolle man die anderen Parteien zu „nervösen und unfairen Reaktionen“ verleiten. (Siehe "FAZ"-Beitrag vom 19. Dezember 2016.) Noch mehr Populismus also?

Auf der Maus ausgerutscht, angeblich nicht gewusst zu haben, wer der Fußballer Jerome Boateng ist, alles aus dem Zusammenhang gerissen – welchen Zweck dient diese Kommunikation? Kretschmer: „Das Ganze folgt einem Grundprinzip: Die Kommunikationsregeln der Etablierten stören, genauer sie zerstören. Dabei werden Social Bots eingesetzt, die die Sozialen Netze solange permanent mit verbalen Beleidigungen und menschenverachtendem Spam zumüllen, bis die Vernunft orientierten, Sachverhalte abwägenden und sozial konform kommunizierenden Menschen diese Kommunikationsräume verlassen.“ Am Ende stehen für Kretschmer „noch weniger Diskurse in unserer Gesellschaft.“

USA-Wahlkampf gibt die Richtung vor

Meyer Lutz FlumberryLutz Meyer (Foto r.) rät dazu, Entwicklungen, die im USA-Wahlkampf erfolgreich waren, auch in Deutschland ernst zu nehmen. Für Meyer, der vor kurzem mit Fullberry eine neue Agentur gegründet hat und mit seinem vorherigen Beratungsunternehmen Blumberry – Meyer ist weiterhin Gesellschafter – den CDU-Wahlkampf mit der Merkel-Raute 2013 in Szene setzte, steht fest: „Die Debatte verlagert sich ins Netz, weil Politiker damit den Filter der Medien umgehen können. Das zeigt Trump ganz erfolgreich. Warum also sollten wir das hier nicht machen?“

Für Meyer spricht allerdings die unterschiedliche Mediennutzung in Deutschland im Vergleich zu den USA, wo mit „breitbart.com“ und „Fox News“ einseitig republikanisch berichtende und zuspitzende Plattformen enormen Erfolg haben, eher dafür, dass eine Dauer-Twitterei à la Trump hierzulande weniger Durchschlagskraft hätte. „Der Schaden wird kleiner bleiben, weil wir Deutschen mehr Zeitung lesen als der Durchschnitts-Amerikaner. Aber der Vorteil schmilzt.“ Social Bots rät Meyer zu verbieten, da diese Form der technischen Meinungsvervielfältigung mit Fälschungsabsicht zutiefst undemokratisch sei.

Folgt auf die Zweifel die Demobilisierung?

Langguth Hans copyright harry weberAuch Hans Langguth (Foto: ©Harry Weber), Geschäftsführer Campaigning bei der Agentur Zum goldenen Hirschen in Berlin, erwartet eine Verlagerung des Wahlkampfes und der Auseinandersetzung ins Internet – mit ungewissem Ausgang. „Es wird der unberechenbarste Wahlkampf aller Zeiten – und die erste Bundestagswahl, die massiv vom Netzgeschehen beeinflusst wird und vielleicht sogar jenseits der konventionell veröffentlichten Meinung entschieden wird.“ Langguth hat mit seiner Agentur eine Vielzahl von Wahlkämpfen auf Landes-, Bundes- und Europaebene für Bündnis 90/Die Grünen begleitet.

Für ihn steht fest: „Demagogen werden versuchen, eine latente Verunsicherung zu erzeugen, denn das ist der beste Resonanzboden für gezielte Falschmeldungen und Manipulationen bis weit in das demokratische Lager hinein. Ist der Zweifel erst einmal gesät, ist es zur Demobilisierung nicht mehr weit.“ Seiner Meinung nach müssten die Kampagnen der Parteien deshalb deutlich agiler und mobiler werden, wenn sie mit dem von den sozialen Medien vorgegebenem Takt mithalten und dem Tempo der Erregungs-Maschinerien gerecht werden wollen. „Die Vorläufe in der Kampagnenplanung werden sich extrem verkürzen. Mehr Dynamik, weniger Statik. Mehr Taktik, weniger Strategie.“

Der Trump-Wahlkampf könnte also auch für Deutschland zeigen, wohin die Reise geht.

Seit dem 17. Januar als Ergänzung zu diesem Beitrag neu im „PR-Journal“: Mit welchen Strategien Parteien und Medien 2017 dem postfaktischen Populismus begegnen und die Deutungshoheit über das politische Agenda Setting wiedererlangen können. Lesen Sie den Artikel: „Haltung zeigen“ und weniger „Plastikdeutsch“: Was gegen Populismus und Fake News hilft