Bundestagswahl-Plakate 2017 von CDU, SPD, Die Grünen, Die Linke, FDP und AfD. (Montage: Corinna Schmid)

Spitzenkandidaten sind wichtig, ihr Einfluss wird aber häufig überschätzt. Das ist die Einschätzung von Frank Brettschneider, Professor für Kommunikationswissenschaftler an der Universität Hohenheim in Stuttgart. Neu ist diese Personalisierung von Bundestagswahlen nicht. Bereits vor über einem halben Jahrhundert setzten die Parteien im Wahlkampf auf ihre Frontleute.

Der Schulz-Hype zu Beginn des Jahres – und dann der Absturz des SPD-Spitzenkandidaten, die Konzentration der CDU auf Angela Merkel: Zumindest bei CDU und SPD stehen die Spitzenkandidaten im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit. Und auch die FDP setzt ganz auf ihren Vorsitzenden Christian Lindner. Grüne, Linke und die AfD treten hingegen jeweils mit einem Spitzen-Duo an. Das ist nicht immer sinnvoll, meint Brettschneider. Er kommentiert nachfolgend die Personalisierung von Bundestagswahlen.

Ist die Personalisierung von Wahlkämpfen ein neues Phänomen?

Brettschneider: „Nein. Die Personalisierung von Wahlkämpfen hat es schon immer gegeben. Die CDU rückte in den fünfziger Jahren Konrad Adenauer in den Mittelpunkt, die SPD in den sechziger und siebziger Jahren Willy Brandt. 1969 plakatierte die CDU „Auf den Kanzler kommt es an“; es ging um Kurt Georg Kiesinger. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Der Grund ist einfach: Kandidaten verleihen dem Programm ihrer Partei Gesicht und Stimme. Erfolgreich sind Parteien dann, wenn der Kandidat zu den Themen der Partei passt. Willy Brandt und Helmut Schmidt hatten jeweils große polarisierende Themen vor sich: die Ostpolitik, den Terrorismus und den Nato-Doppelbeschluss. Bei Helmut Kohl war es die Wiedervereinigung. Mit diesen Themen sind auch die Personen gewachsen, mit den Themen haben sie ihr Profil geschärft.

Solche grundsätzlichen und polarisierenden Themen werden immer seltener. Die Agenda 2010 und die Flüchtlingspolitik waren die vorerst letzten Themen dieser Art. An der Agenda 2010 ist Schröder gewachsen – und die SPD fast gescheitert. Und mit der Flüchtlingspolitik aus dem Jahr 2015 hat Angela Merkel an Profil gewonnen – aber auch einige traditionelle CDU-Wähler an die AfD verloren.“

Orientieren sich Wählerinnen und Wähler eher an Parteien oder an Kandidaten?

Brettschneider: „Nach wie vor orientieren sich viele Wählerinnen und Wähler in Deutschland an ihrer langfristigen Parteibindung. Der Anteil dieser Stammwähler wird aber immer kleiner. Der Anteil der Wechselwähler wächst. Sie bewerten Kandidaten anhand mehrerer Dimensionen: 1) Themenkompetenz, 2) Integrität (Glaubwürdigkeit, Vertrauenswürdigkeit), 3) Leadership-Qualitäten (Führungsstärke, Entscheidungsfreude, Tatkraft) und 4) unpolitische Merkmale.

Die Wahlanalysen für die letzten 50 Jahre zeigen: Am wichtigsten sind – alles in allem – die wahrgenommene Themenkompetenz und die Integrität. Am unwichtigsten sind die unpolitischen Merkmale. Über sie reden die Menschen zwar gerne am Grillabend, am Stammtisch oder im Gespräch mit Nachbarn – in der Wahlkabine spielen sie aber keine Rolle.

Welche Themen im Mittelpunkt der Wahlentscheidung stehen, hängt stark von der Medienberichterstattung ab. Jene Themen, über die unmittelbar vor der Wahl häufig berichtet wird, werden dann auch von vielen Wählerinnen und Wählern als wichtig und relevant eingestuft. Die Wählerinnen und Wähler ziehen dann die vermeintliche Kompetenz der Kandidaten und Parteien bei genau diesen Themen heran, wenn sie sie bewerten.

Anders formuliert: Den Grünen nützt es, wenn unmittelbar vor der Wahl häufig über Umweltthemen berichtet wird. Das ist derzeit kaum der Fall und für die Grünen ein großes Problem. Der SPD nützt es, wenn häufig über soziale Gerechtigkeit berichtet wird. Der CDU nützt es, wenn häufig über Sicherheit, Wohlstand und Stabilität berichtet wird. Der AfD nützt es, wenn viel über Zuwanderung berichtet wird.“

Welche Rolle spielen konkrete Themen für die Wahlentscheidung?

Brettschneider: „Konkrete Inhalte mit eindeutigen Aussagen kommen im Wahlkampf eher selten vor – man findet sie in den Wahlprogrammen. Aber auch dort legen sich Parteien nicht immer fest. Das hat mehrere Gründe: Zum einen wollen sich Parteien möglichst viele Optionen für die Zeit nach der Wahl offen halten – man weiß ja nie, mit wem man eine Koalition eingehen muss. Das gilt umso mehr, je vielfältiger das Parteiensystem und damit auch die Koalitions-Optionen werden.

Zweitens werden die Wählerschaften der Parteien immer fragmentierter. Das heißt, für Parteien genügt es nicht, in erster Linie ihre Stammwähler zu überzeugen. Sie müssen gleichzeitig auch noch viele parteipolitisch ungebundene und unentschiedene Wähler von sich überzeugen. Mit konkreten Aussagen können zwar bestimmte Wählergruppen gewonnen, andere aber auch abgestoßen werden. Daher drücken sich vor allem die Volksparteien aus wahltaktischen Gründen oft vor sehr konkreten Forderungen und bleiben im Ungefähren.

Und drittens kaschieren sie mit unkonkreten Aussagen innerparteiliche Meinungsverschiedenheiten. Aussagen werden dann so unverständlich formuliert – etwa in Schachtelsätze verpackt – dass sich alle Parteigliederungen darin wiederfinden können.“

Wie lässt sich das Ende des Schulz-Hypes erklären?

Brettschneider: „Der Schulz-Hype wurde durch mehrere Faktoren ausgelöst. Zum einen gab es in der SPD eine große Erleichterung darüber, nicht von Sigmar Gabriel in den Bundestagswahlkampf geführt zu werden. Zweitens wird über ‚neue‘ Kandidaten zunächst immer erst einmal positiv berichtet. Es wird hervorgehoben, warum eine Person für ein Spitzenamt geeignet ist. So wurde auch über Martin Schulz zunächst positiv berichtet. Die Serie der Wahlniederlagen im Saarland, in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen hat Martin Schulz dann entzaubert.

Das liegt vor allem an seinen eigenen Fehlern. Er hat die positive Aufmerksamkeit nicht rechtzeitig genutzt, um auch eigene Themen zu transportieren. Vor allem aber hat er sich selbst von einem angesehenen EU-Politiker zum ‚Bürgermeister aus Würselen‘ gewandelt. Offenbar war seine Angst groß, vor dem EU-Hintergrund bei den Wählern nicht punkten zu können. Daher hat er seine Herkunft aus der Kommunalpolitik wieder und wieder betont. Damit wurde der Wahlkampf zu einem Duell zwischen guter Kreisklasse (Schulz) und Champions-League (Merkel), denn Merkel hob immer wieder ihre Gespräche mit Regierungschefs anderer Länder hervor – zuletzt beim TV-Duell.“

Womit punktet Angela Merkel?

Brettschneider: „Angela Merkel punktet vor allem damit, dass sie als Garantin für Stabilität und Verlässlichkeit gilt. Da geht es weniger um ein konkretes Thema, sondern stärker um die Art und das Ergebnis des Regierens. In international turbulenten Zeiten (z.B. Nordkorea, Trump, Erdogan, Polen, Ungarn) kommt diese Stabilität bei vielen Wählern sehr gut an.

Der präsidentielle Stil Angela Merkels betont ihre Funktion als Sachwalterin deutscher Interessen in der Welt. Die positive Beurteilung der Wirtschaftslage in Deutschland – auch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern – liefert zudem anderen Parteien kaum einen Ansatzpunkt, ihre Ablösung zu fordern.“

Sind Spitzen-Duos sinnvoller als einzelne Spitzenkandidaten?

Brettschneider: „Nein, nicht immer. Die Spitzen-Duos bei den Grünen, der Links-Partei und bei der AfD sind im Wesentlichen ein Zugeständnis an innerparteiliche Flügel oder Befindlichkeiten. Das gilt vor allem für die Links-Partei und für die AfD.

Und die Grünen tun sich auf der Bundesebene traditionell schwer mit herausragenden Spitzenpolitikern. So schlug dem äußerst erfolgreichen Joschka Fischer immer auch innerparteiliche Skepsis entgegen. Die Grünen versuchen, diese Skepsis durch ein Team aufzufangen. Cem Özdemir gelingt es gut, die Grünen zu repräsentieren. Dass die Grünen auf Bundesebene nicht mehr mit ihrem Schwergewicht Winfried Kretschmann unterwegs sind, ist hingegen ein Fehler. Auch rächt sich für sie eine sehr unauffällige Oppositionsarbeit der Bundestagsfraktion.“


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