Hat sich auf den Weg gemacht: Matthias Bonjer als Mitglied der PR-Jury in Cannes.

Begegnet man der Juryarbeit in Cannes wie einer Pilgerreise, so ist das anfangs wichtigste Gelübde, jene Kampagnen zu finden, die es verdienen, als heilige Reliquie des diesjährigen Festivals verehrt zu werden. Als Wegbegleiter sind wir Juroren dazu da, den Pfad zu gehen, die relevanten Sehenswürdigkeiten zu kartografieren und später den heiligen Schrein mit all seinen Gold-, Silber- und Bronze-Heiligtümern zu öffnen.

Cannes 2017 Tuerschild BonjerWir Juroren verrichten in kleinen Gruppen und stark klimatisierten Meetingräumen unsere selig machende Arbeit. Nach rund 100 Filmen gestern und 180 Einreichungen heute fällt der Gang zum Meer nicht so leicht. Acht Stunden Kunstlicht verderben einem die erste Stunde in der Sommerhitze von Cannes. Doch wer pilgert, darf nicht klagen.

Fünf Prozent aller Einreichungen in der Kategorie PR

Was die 21-köpfige Jury-Gruppe erwartet, lässt sich aus Vertraulichkeitsgründen nur in relativen Zahlen ausdrücken: In der PR fanden fünf Prozent aller Einreichungen Eingang, bei insgesamt 41.170 Bewerbungen in den 24 Kategorien sind das 2.058 – in etwa so viele, wie im letzten Jahr. Diese Menge galt es, schon vor der Cannes-Jury-Woche in einer Vorbewertung online zu reduzieren. Das hat halbwegs gut geklappt, auf uns wartet noch immer eine vierstellige Zahl an Filmen. Diese sehen wir teilweise fünf- bis sechsmal in dieser Zeit. Am Ende der Woche, am Samstag, sollten maximal zehn Prozent übrig sein, die dann aus einer ersten Shortlist erstmals in die Nähe der Reliquie rücken.

Die Pilgerreise findet an anderer Stelle eine nette Analogie: Wir reisen als Fremde durch 77 teils unbekannte (PR-/Werbe-)Länder, die starke Einreichungen präsentieren. Vorneweg warten Lateinamerika mit Peru, Ecuador, Kolumbien sowie Indien und der asiatische Raum mit vielen Kampagnen auf.

Übertriebene Reichweitenangaben

Die Machart der Einreichungen ist in einem Punkt sehr eindeutig: Paid Media und Digital sind fester, wenn nicht Kernbestandteil und finden überall in verschiedenen Rollen statt. Quelle großer Reichweiten sind überwiegend die sozialen, nicht die klassischen PR-Medien. Und so fliegen in jedem dritten Casefilm eine Menge Emojis und Snippets aus Facebook- und Twitterposts über den Screen. „Awesome“, „overwhelming“, „massive sales increasing“ gehören zu den meist verwendeten Begriffen. Alle Kampagnenreichweiten zusammengezählt – es wird sich hier vor allem auf unbestimmte Größen wie „1.2 billion“ (weitere Detaillierung fehlt häufig) oder Impressions bezogen – müsste die Erdbevölkerung etwa 2.000 Mal im letzten Jahr vollständig erreicht worden sein.

Für einen Neuling auf dem Pfad ist die schiere Menge an Einreichungen nur einer der Nachteile. Der andere ist, dass einem in jeder Kategorie – sei es FMCG, Food, Audience Targeted/Engagement oder Citizenship – reichlich bekannte Grundmuster entgegengeworfen werden. Nicht selten die gleichen Ausschnitte aus der Weltlage des vergangenen Jahres, die als Ausgangspunkt der Kampagnen dienen. Vorneweg: Trump und seine Wahlslogans. Evergreens, wie Müll – ob im Meer, an Land oder der Luft – sowie Diversity, Hunde und Kinder sind weitere Sujets, aus denen auch wirklich gute Kampagnen zusammengestellt sind.

Geringe Beteiligung aus Deutschland

Zwei Dinge vermisse ich bei den in drei Tagen bewerteten Einreichungen: Echte, reine PR-Stunts, die ohne die genannten Cannes-Stereotypen auskommen. Und: Die geringe Beteiligung deutscher Agenturen oder Kampagnen. Selbst Peru ist stärker vertreten.

Aber trotz der kleinen benannten Kritik ist Cannes vor allem eine sehr lebendige Plattform einiger herausragender Ideen, denen ich nahezu verehrend meine Votes gebe.

Und hinter mir liegt erst der Anfang des Pilgerwegs.

Über den Autor: Matthias Bonjer, Mitgründer und geschäftsführender Gesellschafter der Berliner Agentur Zucker.Kommunikation, ist in diesem Jahr erstmals Mitglied der PR-Jury in Cannes. Außerdem berichtet er für das „PR-Journal“ vom Kreativitätsfestival. Im Agenturblog von Zucker schildert er ebenfalls seine Eindrücke.


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